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Umwelt & Gesellschaft

Die große Gender-Debatte: Ein Interview mit Expertin Sigi Lieb

03.01.2022 5 Minuten Lesezeit

Seit Jänner 2022 gibt es eine UNIQA Leitlinie zur gendergerechten und inklusiven Kommunikation, die in einem abteilungsübergreifenden Projekt entwickelt wurde. Wertvolle Unterstützung erhielt das Projektteam dabei von Sigi Lieb. In einem Interview hat uns die Expertin für Gender und Diversity erzählt, warum das Thema „Gendern“ in deutschsprachigen Ländern so stark polarisiert, wie sich kritische Personen überzeugen lassen können und wie sie mit Gegenwind umgeht.

Eine provokante Frage zum Einstieg: Sorgt „Gendern“ wirklich für Gleichberechtigung oder ist es ein künstlich konstruiertes Problem einer Minderheit?

Eine gendergerechte Sprache allein schafft keine Gleichberechtigung. Sie ist ein Teil des Puzzles. Wie ich rede, ändert nichts am Gehaltszettel oder an der Verteilung der Führungskräfte. Aber: Sprache ist Ausdruck unseres Denkens und erzeugt Vorstellungen, die später zu Handlungen führen. Wenn wir von Männern sprechen, lösen wir Bilder von Männern aus. Frauen oder nicht-binäre Personen tauchen nicht oder nur selten auf. Was aber nicht gedacht wird, wird beim Tun vergessen. Sprache ist mächtig und unser wichtigstes Werkzeug für Kommunikation. Sie lobt und beleidigt, motiviert und frustriert, ist sachlich oder emotional. Sie kann Brücken bauen oder Gräben schaufeln. Es liegt an uns, wie wir dieses Werkzeug benutzen.

Zum zweiten Teil der Frage: Frauen sind keine Minderheit. Zusammen mit nicht-binären Personen ist das eine Mehrheit. Dazu kommt: Das Recht auf Nicht-Diskriminierung ist ein Individualrecht und steht jeder Person zu. Wir sagen schließlich auch nicht: „Nur eine Minderheit benötigt Rollatoren. Also wozu brauchen wir barrierefreie Gehwege?“

Geschlechtergerechte Sprache hat ihre Anfänge in den 1960er und 70er Jahren. Warum polarisiert das Thema im deutschen Sprachraum heute noch immer so stark?

Sprache ist etwas sehr Persönliches. Wir alle benutzen sie und fühlen uns schnell angegriffen, wenn unser Sprachgebrauch kritisiert wird. Wie wir Sprache verstehen und verwenden, ist geprägt von Gewohnheiten, die uns oft nicht bewusst sind. Diskriminierungen, von denen wir selbst nicht betroffen sind, fallen uns nicht so leicht auf. Inklusive Sprache schafft Bewusstsein, achtsam mit dem Werkzeug Sprache umzugehen.

Erst seit wenigen Jahren rückt langsam ins Bewusstsein, dass es außer Männern und Frauen noch weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitäten gibt. Die Verfassungsorgane in Österreich und Deutschland haben den nicht-binären Personenstand als Positiveintrag bestätigt.

Dazu kommt heute noch eine weitere Verantwortung: Immer häufiger werden Entscheidungen nicht von Menschen, sondern von Künstlicher Intelligenz, kurz KI, getroffen. KI kann aber nicht zwischen generisch und spezifisch differenzieren, weiß also nicht, ob bei einem männlichen Begriff ein Mann gemeint ist oder auch andere Personen. Sie nimmt Wörter wörtlich und so führen generische Maskulina zu einer faktischen Diskriminierung von Nicht-Männern. All unsere Vorurteile, Stereotype und auch grammatikalischen Verzerrungen landen in den Algorithmen und führen zu real diskriminierenden Entscheidungen. Dieses Wissen führt nach meinem Verständnis zu einer besonderen Verantwortung, achtsam mit den Bildern und Texten zu sein, die im digitalen Raum landen.

 


Über Sigi Lieb:

Sigi Lieb ist Kommunikationsprofi mit dem Schwerpunkt Mindset, Sprache und Kommunikation. Die Diplom-Sozialwirtin berät und begleitet Unternehmen in der Unternehmenskommunikation, der Personalentwicklung und der Organisationsentwicklung. Lieb ist außerdem gelernte Radio- und TV-Journalistin, zertifizierte PR-Beraterin und Lehrerin für Deutsch als Zielsprache.

www.gespraechswert.de

Sigi Lieb

Sigi Lieb (© Isabella Raupold)


Wie kann man Menschen, die der gendergerechten Sprache kritisch gegenüberstehen, das Thema näherbringen?

Die wenigsten Menschen sind radikale Gegner:innen einer gendergerechten Sprache. Viele sind verunsichert, verstehen das Warum nicht oder wissen nicht, wie sie es umsetzen sollen.

Aussagen mit „Ich fühle…“ oder „Ich meine…“ sind subjektiv und entziehen sich einer objektiven Messbarkeit. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir anderen vorschreiben wollen, was sie fühlen oder meinen sollen.

Objektiv und wissenschaftlich messbar ist jedoch die Sprachwirkung, zum Beispiel, welche Bilder lösen Begriffe aus oder wie lange dauert die Reaktionszeit. Diese Ergebnisse zeigen uns, dass das generische Maskulinum die Überwindung von Genderstereotypen behindert.

Das heißt aber nicht, dass jetzt alle ständig Doppelpunkte oder Sterne benutzen müssen. Es gibt ja viele andere Möglichkeiten, sich gendergerecht auszudrücken.

Es gibt nach wie vor keine einheitlichen Regeln. Würden verbindliche Vorgaben helfen, die Akzeptanz zu steigern?

Sprache gehört uns allen. Wir benutzen sie täglich und sie ist sehr persönlich. Deshalb reagieren wir oft so emotional. Ich bin gegen Sprachzwang und gegen Dogmen. Es gibt im deutschen Sprachraum keine normative Tradition, also keine Instanz, die dem „Volk“ sagt, wie es zu schreiben hat. Unsere Sprache entwickeln wir gemeinsam durch ihren Gebrauch weiter. Auch der Rechtschreibrat hat keine normative Kompetenz – er beobachtet den Sprachgebrauch und entwickelt die Regeln behutsam weiter.

Beim Französischen ist das anders, zumindest in der Theorie. Dort versucht die Académie Française vorzuschreiben, wie Französisch zu gehen hat. Das hält die Menschen in Paris, Brüssel oder Quebec jedoch nicht davon ab, eigene neue Wörter und Satzkonstrukte zu entwickeln, darunter auch genderneutrale Alternativen sowie Neopronomen für nicht-binäre Personen und übergreifende Bedeutungen.

Wie du gerade mit Blick auf Frankreich erwähnt hast, gibt es die Debatte über geschlechtergerechte Sprache nicht nur im deutschen Sprachraum. Wie gehen andere Länder damit um?

In den Ländern, in denen Frauen und Minderheiten in den letzten Jahren an Gehör und Stimme gewonnen haben, und wo Antidiskriminierungs- und Gleichberechtigungsbewegungen Erfolg haben, ist das Thema relevant. Die Komplexität ist allerdings von der jeweiligen Sprache abhängig.

Sprachen können wir in drei Kategorien unterteilen: „Genderless languages“, wie Ungarisch oder Finnisch, besitzen keine grammatikalischen Gendermarkierungen. Bei den „natural gendered languages“, zu denen Englisch und die meisten skandinavischen Sprachen gehören, haben die meisten Hauptwörter keine Gendermarkierung. Die wenigen Nomen mit Markierung wurden neutralisiert. So wurde beispielsweise im Englischen aus fireman firefighter und aus policeman policeofficer. Allerdings haben die Pronomen Gendermarkierungen. Hier wurde im Englischen das alte Singular-They aus Shakespeares Zeiten reaktiviert. Im Schwedischen gibt es das Neopronomen „hen“ für neutrale Anwendungen. Die dritte Kategorie, zu der Deutsch, die romanischen und slawischen Sprachen gehören, sind die „highly gendered languages“. Das bedeutet, in diesen Sprachen ist das Gender tief in die Grammatik eingeschrieben. So heißt der Satz „Alle feiern zusammen“ auf Spanisch anders, ob es um Frauen (Todas celebran juntas.) oder um Männer (Todos celebran juntos.) geht. Und auch hier gibt es Bemühungen, die Sprache neutraler zu machen (Todes celbran juntes.).

Ich freue mich, dass Sprache derzeit so viel Beachtung findet. Denn sie ist zwar nur ein Puzzleteil von vielen, aber sie ist überall, jeden Tag, wird von allen benutzt.

Sigi Lieb

Wo hat gendergerechte Sprache Grenzen?

Ich gehe heute anders und mutiger mit Sprache um, als noch vor ein paar Jahren. Grundsätzlich achte ich darauf, mich gendergerecht auszudrücken, ohne andere zu irritieren. Das führt dazu, dass ich meine Sprache dem Kontext und meiner Zielgruppe anpasse. In einem konservativen Umfeld nehme ich eher mal die Beidnennung, wenn ich das Gefühl habe, die Genderpause irritiert zu sehr. In einem progressiven Umfeld achte ich hingegen eher darauf, auch nicht-binäre Personen immer sichtbar zu machen, zum Beispiel mit der Genderpause. Kommunikation ist ein Prozess und ich möchte verstanden werden.

Wie lange wird es deiner Ansicht nach dauern, bis sich die Gesellschaft an eine geschlechtergerechte Sprache gewöhnt hat?

Ich kann nicht in die Zukunft blicken, aber zurück. Vor drei Jahren war das Thema für die meisten Unternehmen nicht von Interesse. Seitdem hat sich viel geändert. Wie auch immer sich unsere Sprache entwickeln wird, sie tut es so lange wir sie benutzen.

Ich freue mich, dass Sprache derzeit so viel Beachtung findet. Denn sie ist zwar nur ein Puzzleteil von vielen, aber sie ist überall, jeden Tag, wird von allen benutzt. Natürlich braucht es für strukturelle Veränderungen nicht nur Worte, sondern Taten. Wir werden sehen, inwieweit Sprache ihren Anteil dazu beiträgt, Entscheidungen zu beeinflussen. Wichtig ist, dass sich Menschen aller Geschlechter, Hautfarben und Schulabschlüsse in ihr wohlfühlen.

   


Gender-Glossar:

nicht-binär: Menschen, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren, sich also außerhalb dieser zweigeteilten, binären Geschlechterordnung befinden.

Eintrag im Personenstandsregister: Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat 2018 das Recht intergeschlechtlicher Menschen auf Eintragung ihrer individuellen Geschlechtsidentität im zentralen Personenstandsregister anerkannt. Entsprechend gibt es sechs Optionen zur Geschlechtseintragung: weiblich, männlich, inter, divers, offen, keine Angabe.

generisches Maskulinum/generische Maskulina: Geschlechtsübergreifende Verwendung eines maskulinen Wortes. Generisch bedeutet, dass das Wort als allgemeingültiger Oberbegriff dienen soll – insbesondere bei Personen- und Berufsbezeichnungen, wie z. B. Kunde – Kundin. Bei der geschlechtsübergreifenden Verwendung maskuliner Personenbezeichnungen ist sprachlich nicht immer eindeutig, ob nur männliche Personen gemeint sind oder auch andere.

Rechtschreibrat (offiziell: Rat für deutsche Rechtschreibung): zentrale Instanz in Fragen der Rechtschreibung. Aufgaben des Rats sind die Beobachtung und Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung, die Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum sowie die Klärung von Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung.

Neopronomen für nicht-binäre Personen: In der deutschen Sprache gibt es noch keine offiziellen alternativen Personalpronomen für nicht-binäre Menschen. Es gibt jedoch viele Neopronomen, also Wortschöpfungen, um über eine Person zu sprechen, ohne ihren Namen zu nennen: z.B. sier – ein Mix aus den Personalpronomen sie und er.

Beidnennung: Bei der Beidnennung, oder auch Paarform, werden die weibliche und männliche Form ausgeschrieben werden (z.B. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). Sie schließt jedoch nicht-binäre Menschen aus.

Genderpause: Um in der Sprechsprache alle Geschlechter einzubeziehen, müssen wir die Genderpause, den sogenannten Glottisschlag, sprechen. Bei der Aussprache von Begriffen wie Kolleg:innen wird daher an der Stelle des Doppelpunkts eine kurze Pause gemacht.